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„Globalisierung gerecht gestalten“

Ein Diskussionsbeitrag zur aktuellen Auseinandersetzung über die „Globalisierung“.

Von Dr. Klaus Seitz am

Deutschland hat in diesem Jahr die  Präsidentschaft der G20 inne. Am 7. und 8. Juli kommen die Staats- und Regierungschefs der 19 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer sowie die EU zum G20-Gipfel in Hamburg in Hamburg zusammen. Die G20 definiert ihre aktuelle Aufgabe gemäß der deutschen Präsidentschaft durch die Zielsetzung, „die Globalisierung zum Nutzen aller zu gestalten“ und die „Vorteile der Globalisierung und weltweiter Vernetzung zu verstärken und breiter zu teilen“. Zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Organisationen, die die Politik der G20 und deren ökonomische Vormachtstellung kritisch bewerten, werden in den Medien als „Globalisierungskritiker“ oder auch als „Globalisierungsgegner“ charakterisiert. Es ist vor diesem Hintergrund angesagt, nochmals genauer darauf zu blicken, was es mit der Rede von „Globalisierung“ eigentlich auf sich hat.

„Globalisierung“ – ein vielschichtiger Begriff

Der Globalisierungsbegriff ist nicht nur in den Medien, sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs sehr schillernd. Er wird zur Beschreibung ganz unterschiedlicher Trends und Facetten der gegenwärtigen Weltlage gebraucht. Die früheste Verwendung des Terminus „globalisation“, die „The Oxford English Dictionary“ belegt, datiert auf das Jahr 1959. Das Wort taucht seitdem gelegentlich in anglo-amerikanischen Publikationen im ökonomischen Kontext auf. Im deutschsprachigen Raum findet sich der Begriff darüber hinaus vereinzelt in den siebziger Jahren in Bezug auf völkerrechtliche Entwicklungen, aber auch bereits in einem umfassenderen Sinne: so spricht beispielsweise der Friedensforscher Krippendorf schon 1975 von der „Globalisierung der gesellschaftlichen Beziehungen“. Eine stürmische Konjunktur, belegt in allen Weltsprachen, erlebte der Terminus dann allerdings erst seit dem Fall der Mauer.

Die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge des Globalisierungsbegriffs lassen sich u.a. danach unterscheiden,

  • ob Globalisierung mehrdimensional begriffen wird oder sich nur auf eine bestimme soziale Sphäre (in der Regel die ökonomische) bezieht,
  • ob Globalisierung einen weltumspannenden, flächendeckenden Charakter beansprucht oder  „nur“ auf Denationalisierungsprozesse abhebt,
  • ob Globalisierung zwangsläufig mit einer Vereinheitlichung der Welt verbunden ist oder vielmehr die Erhöhung ihrer Heterogenität mitgedacht wird,
  • ob Globalisierung als Überschreiten einer epochalen Schwelle, mit der  eine neue Ära der Geschichte eingeleitet wurde, begriffen wird, oder sich als fortschreitender kumulativer Prozess beschreiben lässt,
  • ob Globalisierung als diffus oder strukturbildend beschrieben wird,
  • ob der Anfang der  Globalisierung mit dem Beginn der Kolonisierung, mit der Industriellen Revolution, mit dem Fall der Mauer identifiziert wird oder aber als ein evolutionärer Prozess angesehen wird, der der Menschheitsgeschichte von Anfang inhärent ist,
  • inwieweit für den Befund der Globalisierung das Bewusstsein der Menschen, Teil von Globalisierungsprozessen zu sein, selbst wesentlich ist (objektiver vs. reflexiver Globalisierungsbegriff),
  • inwieweit Globalisierung als deskriptiver Begriff gebraucht wird, oder aber normativ mit einer bestimmten erwünschten Weltordnungsvorstellung verknüpft und damit „ideologisch“ z.B. als „Globalismus“ aufgeladen wird.

Der Globalisierungsbegriff wurde zunächst in erster Linie im ökonomischen Bereich entfaltet – worauf ihn auch ein eher kleiner Kreis von Wissenschaftlern nach wie vor begrenzt wissen will. Er bezeichnet hier einen Prozess der fortschreitenden Integration der Volkswirtschaften. Indikatoren für das Ausmaß, in dem Märkte und Produktion in verschiedenen Ländern zunehmend voneinander abhängig werden, sind das Wachstum des internationalen Handels mit Waren und Dienstleistungen, dessen jährliche Zuwachsrate die der Weltproduktion seit den 1950er Jahren regelmäßig übersteigt, weiterhin die grenzüberschreitende Bewegung von Technologie und Kapital und der Einfluss transnationaler Unternehmen, die für immer größere Anteile an Weltproduktion und Welthandel verantwortlich zeichnen. Die enorme, empirisch belegbare Expansion des internationalen Handels wurde vor allem durch die vom technologischen Fortschritt beschleunigte Senkung der Transaktionskosten für Waren, Dienstleistungen, Informationen und Kapital, sowie durch den Abbau tarifärer und nicht-tarifärer Handelshemmnisse zwischen den Ländern ermöglicht.

Bereits der engere ökonomische Globalisierungsbegriff beschreibt die neue Qualität der Verflechtung wirtschaftlicher Beziehungen als einen Prozess, der in drei Dimensionen parallel verläuft: räumlich als Ausdehnung, sachlich als Verdichtung und zeitlich als Beschleunigung grenzüberschreitender Interaktionen. Der Soziologe Anthony Giddens generalisierte diese Kategorien und gab dem Globalisierungsbegriff damit eine allgemeine Form, die ihn von der ausschließlichen Bindung an ökonomische Prozesse entkoppelt und seine Anwendung auf verschiedene Bereiche sozialer Interaktion ermöglicht. Eine seiner in der Globalisierungsdiskussion vielzitierten Definition des Begriffs lautet:  „Definieren lässt sich der Begriff der Globalisierung demnach im Sinne einer Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt“.

Auf dem Weg in eine Weltgesellschaft

Diese Begriffsfassung findet ihren Niederschlag auch in UN-Dokumenten wie dem UNDP-Development-Report des Jahres 1999, der unter dem Titel „Globalization With a Human Face“ Globalisierung mit den Begriffen „shrinking space, shrinking time, disappearing borders“ umschreibt und dabei ausdrücklich die Mehrdimensionalität von Globalisierungsprozessen betont: „Globalization is more than the flow of money and commodities - it is the growing interdependence of the world’s people. And globalization is a process integrating not just the economy but culture, technology and governance“.

Nach wie vor mag es Gründe geben, von Globalisierung in erster Linie in einem ökonomischen Sinne zu sprechen, hinsichtlich der Ausdehnung wirtschaftlicher Beziehungen. Es liegt gleichwohl auf der Hand, dass sich dergleichen Prozesse der Ausdehnung und Verflechtung  grenzüberschreitender, regional-globaler Beziehungsnetzwerk in ähnlicher Weise auch auf der kulturellen, politischen, wissenschaftlichen, militärischen und ökologischen Ebene beobachten lassen.

Daher hat sich heute auch in den Dokumenten multilateraler Organisationen wie auch in den Sozialwissenschaften die Verwendung eines allgemeinen, mehrdimensionalen Globalisierungsbegriffs durchgesetzt. Dabei muss nicht zwangsläufig eine weltumspannend flächendeckende Vernetzung vorausgesetzt werden, um von Globalisierung sprechen zu können. So konzentriert sich die Verdichtung globaler Netzwerke häufig noch auf die OECD-Welt, während weite Teile der ländlichen Armen ausgeschlossen bleiben. Denn Globalisierung, als Prozess begriffen, bringt zum Ausdruck, dass die Verdichtung der Interaktionen, die eine Gesellschaft konstituieren, nicht mehr mit den nationalen Grenzen eines Territoriums zusammenfällt, sondern deren Zahl und Reichweite die nationalen Grenzen zunehmend überschreitet und neue transnationale Strukturen ausbildet. So gesehen ist auch die Diagnose einer „post-nationalen Konstellation“ ein Globalisierungsbefund.

Gesellschaft kann heute, das wäre das weitreichendste soziologische Theorem, nur noch als Weltgesellschaft begriffen werden, weil die Grenzen der Gesellschaft längst nicht mehr mit territorialen Grenzen zusammenfallen. Damit ist der Nationalstaat nicht automatisch obsolet, aber die Fragmentierung territorial abgegrenzter, nationaler politischer Systeme ist empirisch ohne weiteres vereinbar mit der Vorstellung eines die ganze Erde umspannenden Netzwerks sozialer, ökonomischer, kultureller etc. Interaktionen, die eine globale Gesellschaft bilden.

Globalisierung wäre in diesem Verständnis auch kein Prozess, der Weltgesellschaft sukzessive aufbaut, sondern ein Prozess der sich innerhalb einer funktional differenzierten Weltgesellschaft ereignet. In diesem Verständnis wäre es auch unsinnig, davon auszugehen, es wäre möglich, Globalisierung gewissermaßen von außen zu betrachten und zu kritisieren. Es gibt keinen Standpunkt außerhalb der Weltgesellschaft.  So gesehen wäre auch eine fundamentalistische Position der „Anti-Globalisierung“ nicht plausibel, was schon darin zum Ausdruck kommt, dass auch radikale Kritiker der Globalisierung sich ihrerseits im Rahmen globalisierter Netzwerke artikulieren. Aber selbstverständlich muss es dennoch und erst recht möglich sein, die Art und Weise der Gestaltung (welt-) gesellschaftlicher Prozesse und Ordnungen, oder die globale Dominanz eines bestimmten ökonomischen Systems, die Konzentration politischer Macht, etc. zum Thema politischer Auseinandersetzungen zu machen, zu kritisieren und verändern zu wollen. Eine andere Globalisierung mit menschlichem Antlitz ist möglich.

Herausforderungen der Globalisierung

Verschiedene Stimmen aus dem Süden charakterisieren Globalisierung als eine neue Form des Kolonialismus, so z.B. Martin Khor, seinerzeit Direktor des Third World Network 1997: „Globalization is what we in the Third World have for several centuries called colonization“. Die Auffassung, wonach mit der Globalisierung ein dominantes Herrschaftsmodell, ausgehend von den Zentren in Europa oder den USA, dem Rest der Welt in der Peripherie übergestülpt und diese damit in abhängiger Entwicklung gehalten wird, ist angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen jedoch nicht mehr plausibel.

In Anbetracht der tektonischen Verschiebungen in der Weltwirtschaft und des Aufstiegs der Schwellenländer haben sich die Zentren der ökonomischen und politischen Dynamik längst verlagert und über den Globus verteilt – und heute sind es häufig die alten Industriestaaten, die Gefahr laufen, im internationalen Wettbewerb den Anschluss zu verlieren. Nicht zuletzt auch in den Bereichen der Kultur und der Wissenschaft hat der Charakter der wechselseitigen interkulturellen Inspiration und der Ausbildung einer globalen Hybridkultur längst die Einbahnstraßen kolonialen Kulturaustauschs verlassen. Es gibt eine Reihe von Indizien, die darauf schließen lassen, dass die Globalisierung zwar in Europa ihren Ausgang nahm, inzwischen aber kein „europäisches Projekt“ mehr darstellt. Im Zuge der Globalisierung ist die „Europäisierung der Welt“ vielmehr an ihr Ende gekommen. In diesem Sinne argumentiert auch die EKD in ihrer Studie „Ökumene im 21. Jahrhundert“: „Europäische Christen müssen aber auch die Kritik, die vor allem Christen aus der südlichen Hemisphäre dem impliziten Anspruch des europäischen Denkens (…) auf universelle Geltung entgegenbringen, hören und ernst nehmen. Globalisierung darf nicht länger den Export europäischer Denktraditionen in alle Welt bedeuten.“

Allerdings ist es durchaus richtig, davon auszugehen, dass die Grundmuster des in den alten Industriestaaten entstanden ökonomischen Modells einer auf der Ausbeutung fossiler Ressourcen basierenden kapitalistischen Industrialisierung inzwischen weltweite Verbreitung gefunden hat – und ein guter Teil der globalen Krisen unserer Zeit daraus resultiert, dass die Globalisierung dieser Wirtschaftsweise an die ökologischen Belastungsgrenzen des Planeten stößt.  Eine weitere Externalisierung der sozialen und ökologischen Folgekosten der Industriezivilisation ist in einer vernetzten Weltgesellschaft nicht mehr möglich.

Globalisierung in der Krise

So gesehen steckt die Globalisierung in der Tat in einer Krise, die in einer Fülle von globalen Herausforderungen und zunehmenden Risiken zum Ausdruck kommt. Dazu zählen u.a. der Klimawandel, der Verlust der Biodiversität, die Verschmutzung der Ozeane, der zunehmende Wasserstress, aber auch die weltweit zunehmende soziale Kluft zwischen Reich und Arm, die Gefahr globaler Epidemien, die Eskalation von gewaltsamen Konflikten und die Anwendung von Massenvernichtungswaffen, die Instabilität des globalen Finanzsystems und vieles mehr. Die Weltlage ist in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts von sehr widersprüchlichen Trends und Entwicklungen geprägt. Fortschritten in der Verbesserung menschlicher Lebensverhältnisse steht die zunehmende Ungleichverteilung des Zugewinns an gesellschaftlichem Wohlstand gegenüber, verstärkte Bemühungen um eine konsistente Nachhaltigkeitspolitik gehen mit einem steigenden Druck auf die planetarischen Belastungsgrenzen einher und trotz der wachsenden Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit der Staaten erfahren Tendenzen zu einer engstirnigen Politik der Besitzstandswahrung und des Rückzugs auf nationale Eigeninteressen neuen Aufschwung. Die Forcierung nicht nachhaltiger Entwicklungspfade und die Beschleunigung von Fragmentierungs- und Renationalisierungsprozessen kann die Welt in eine humanitäre und ökologische Katastrophe katapultieren. Gleichzeitig nimmt die Gefahr zu, dass sich gewaltsame Konflikte in einer interdependenten Welt immer schneller zu unkontrollierbaren Flächenbränden ausweiten. Eine solche fragiler werdende Weltkonstellation erfordert mehr denn je die Stärkung und Qualifizierung der internationalen Zusammenarbeit für den Schutz der globalen Gemeinschaftsgüter und für die Überwindung von vermeidbarer menschlicher Not, von Armut, Ausgrenzung und der Verletzung von Menschenrechten.

Wenn es eines Indikators für das Zusammenwachsen der Welt bedarf, dann ist es die Einsicht, dass die Menschheit zu einer Risikogemeinschaft geworden ist – auch wenn die Risiken und Lasten sehr ungleich verteilt sind. Es sind heute weniger die Hoffnungen auf eine kosmopolitische Friedensutopie, als die Erwartungen an eine erfolgreiche Bewältigung der globalen Risiken, die den „Eine Welt“-Gedanken prägen. „Eine Welt – oder keine“, diese fundamentale Alternative skizzierte bereits 1964 der Soziologe Ossip K. Flechtheim.

Die Bewältigung globaler Herausforderungen braucht globale Zusammenarbeit. Die Stärkung internationaler Kooperation und die Wiedergewinnung politischer Gestaltungskompetenz über eine ungezügelte Globalisierung sind daher die wichtigsten Aufgaben des 21. Jahrhunderts. Mit dem Klimaabkommen von Paris und der Agenda 2030 hat die Staatengemeinschaft diesbezüglich wichtige Eckpunkte gesetzt. Gleichwohl sind die etablierten Strukturen von Global Governance nach wie vor viel zu schwach, um Leitplanken für die gesellschaftlichen und ökonomischen Prozesse im grenzüberschreitenden Raum markieren zu können. Die weitverbreitete Kritik an einer „neoliberalen Globalisierung“ bringt diese Diskrepanz zum Ausdruck – wenngleich das Adjektiv „neoliberal“ hier unglücklich ist, da es ursprünglich aus dem ordoliberalen Diskurs stammt, heute aber in erster Linie auf marktradikale Positionen gemünzt wird.

Auch die Civil-20 artikuliert in ihrem Narrativ zum diesjährigen G20-Gipfel „Globalization – There are a Thousand Alternatives“: „The neoliberal design of globalization is flawed, and the G20 leaders have a responsibility to re-design it“. Die fortschreitende Deregulierung ökonomischer Prozesse und die Liberalisierung des internationalen Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs waren und sind jedenfalls wichtige Triebfedern, die das Verhältnis von Wirtschaft und Politik im Zuge der Globalisierung in eine Schieflage gebracht haben.

Die Wiedergewinnung des Primats der Politik über die Ökonomie zugunsten der Interessen des globalen Gemeinwohls ist auch ein zentrales Thema in der Auseinandersetzung mit der Globalisierung innerhalb des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK):

Die Debatte über Alternativen zur Globalisierung im Ökumenischen Rat der Kirchen

Zwischen den Vollversammlungen des ÖRK 1998 in Harare und 2006 in Porto Alegre vollzog sich innerhalb des ÖRK eine intensive Debatte über Alternativen zur Globalisierung. Als Leitbegriff diente dabei „Agape“, der neutestamentlichen Bezeichnung für göttliche Liebe, die zum Akronym für „Alternative Globalisation adressing People and Earth“ umgedeutet wurde. Der Agape-Diskurs des ÖRK greift explizit die Spannung zwischen „Globalisierung als vielschichtigem historischen Prozess einerseits und der gegenwärtigen Form eines gefährlichen wirtschaftlichen und politischen Projekts des globalen Kapitalismus“ auf. Die eindeutige Kritik gilt der Globalisierung als „neue Strategie des globalen Kapitalismus“, dem eine „Wirtschaft des Lebens“ entgegengestellt wird, „welche das Teilen, die weltweite Solidarität, die Menschenwürde sowie die Liebe und die Sorge für die Integrität der Schöpfung fördert“:

„Zur Vision hinter der Globalisierung gehört auch eine Vision, die im Wettbewerb mit der christlichen Vision von der oikoumene steht, der Einheit der Menschheit und der ganzen bewohnten Erde“ heißt es in der Empfehlung der Vollversammlung von Harare „Die Logik der Globalisierung muss durch ein alternatives Lebenskonzept, nämlich der Gemeinschaft in Vielfalt, in Frage gestellt werden. Christen und Kirchen sollten über die Herausforderung der Globalisierung aus der Perspektive des Glaubens nachdenken und deshalb Widerstand gegen die einseitige Dominanz wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung leisten.“

Die Debatte über eine Ökonomie im Dienst des Lebens fand schließlich einen Höhepunkt in der Konsultation in Soesterberg im Juni 2002, die gemeinsam vom ÖRK, dem Lutherischen Weltbund, dem Reformierten Weltbund und der Konferenz Europäischer Kirchen veranstaltet wurde. Die Konsultation kritisierte die wirtschaftliche Globalisierung und benannte die ethischen Eckpunkte für eine Wirtschaft im Dienst des Lebens.

Der ÖRK hat sich darüber hinaus bemüht, Vorschläge für eine „Neue internationale finanzielle und ökonomische Architektur“ zu entwickeln. Der 2014 erarbeitete Aktionsplan „Economy of Life for All Now“ enthält Anregungen, wie Kirchen und Entwicklungswerke die Anliegen einer lebensdienlichen Ökonomie weiter konkretisieren können. Die Wiedergewinnung des Primates der Politik gegenüber der Eigengesetzlichkeit des ökonomischen Systems und des Finanzsektors gilt als eine der Schlüsselherausforderungen unserer Zeit. Die EKD-Schrift „Damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen“ mahnt in diesem Zusammenhang allerdings auch Beiträge zur Suche nach politikfähigen Konzepten an, denn es müsse „die ökumenisch sozialethische Arbeit über das Stadium der prophetischen Fundamental-Kritik hinausgehen und pro-aktive konkrete und politisch kommunizierbare Gestaltungsvorschläge entwickeln, die auf konkrete Projekte von neuen Steuerungs- und Kontrollinstrumenten des Finanzsektors und der ihn bestimmenden übermächtigen Wirtschaftsinteressen bezogen sind.“

Globalisierungsverlierer und Rechtspopulismus

Die Bereitschaft, sich verstärkt auf internationale Kooperation einzulassen, scheint derzeit in vielen Staaten, gerade auch innerhalb der G20, angesichts von populistischen und nationalistischen Strömungen zu schwinden. Dirk Messner sieht vier Faktoren, die das Entstehen rechtspopulistischer Bewegungen vor dem Hintergrund wachsender Globalisierungsängste derzeit begünstigen:

 

Vermeintliche oder tatsächliche Globalisierungsverlierer artikulieren Verlust- und Abstiegsängste.

Es besteht ein Gefühl des Kontrollverlustes in Anbetracht der Globalisierung.

Die Eliten entziehen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung.

Kollektive Identität, Heimat und Gemeinsamkeiten scheinen zu zerfallen.

 

Aus einer solchen Gemengelage heraus ist eine „Gegentransformationsbewegung“ entstanden, die auf nationale Abgrenzung und Entsolidarisierung nach außen setzt und sich einer sozial-ökologischen Wende und wie auch der Vertiefung internationaler Kooperation verweigert.

Der Ungleichheitsforscher Branko Milanovic gibt Hinweise darauf, woraus die Verlust- und Globalisierungsängste von Teilen der europäischen Mittelklasse möglicherweise resultieren: Demnach scheint es in der Tat so, dass die untere Mittelschicht in den alten Industriestaaten relativ gesehen zu den Verlieren der Globalisierung zählt, weil sie im Zuge der allgemeinen Wohlfahrtssteigerung der Weltwirtschaft in den vergangenen 20 Jahren keine oder nur geringe Einkommenszuwächse erzielen konnte. Die massive Konzentration von Reichtum auf Seiten der Superreichen führt einhergehend mit der Erosion der Mittelschichten in den OECD-Staaten nach den Szenarien von Milanovic zur Bildung von Plutokratien (wie wir sie aktuell vor allem in den USA sehen) und zum Zerfall demokratischer und rechtsstaatlicher Systeme. Die wachsende soziale Disparität innerhalb der Länder und z.T. zwischen ihnen ist für Milanovic der Kernfaktor des drohenden Auseinanderfallens der Gesellschaften. Der sozialen Ungleichheit müsse daher auf allen Ebenen entschieden entgegengetreten werden.

Als Schlüsselinstrument für den Abbau sozialer Ungleichheit in der Welt sieht Milanovic die internationale Migration an (nicht die Entwicklungszusammenarbeit). Wir sollen mehr Migration zulassen. Paradoxerweise wird damit gerade eine Lösungsstrategie präferiert, die in vielen Staaten das Aufkommen populistischer rechter Strömungen befeuert hat. Die auch im Namen einer sozial-ökologischen Transformation und im Sinne der Agenda 2030 anstehenden Veränderungsprozesse in unserer Gesellschaft werden ohnehin für weite Teile der Bevölkerung Zumutungen mit sich bringen, die erhebliche Widerstände mobilisieren dürften, die eine Politik der Weltoffenheit und Nachhaltigkeit untergraben. Die auch von uns geforderte Ernährungs-, Agrar-, Energie-, Verkehrswenden etc. sind mit erheblichen Transformationskosten verbunden, die politisch nur akzeptabel sind, wenn sie sozial gerecht verteilt werden und die soziale Disparität nicht weiter vertiefen. Daher wird sich Brot für die Welt eingehend mit der Frage befassen müssen, welche Antworten wir auf die Sorgen der tatsächlichen oder vermeintlichen Globalisierungs- und Transformationsverlierer in unserer Gesellschaft haben.

Globalisierung gerecht gestalten

Diejenigen, die wie Brot für die Welt für eine gerechtere Gestaltung der Globalisierung eintreten, finden sich heute in einer eigentümlichen Gemengelage wieder. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass wir eines Tages dagegen protestieren, dass immer mehr Handelsverträge bilateral außerhalb der Welthandelsorganisation WTO geschlossen werden  und es uns Sorge bereitet, dass die WTO und mit ihr der Multilateralismus geschwächt werden? Und wer hatte damit gerechnet, dass die linke Kritik an der Globalisierungs- und Liberalisierungsagenda von WTO und Weltbank von der Forderung nach einer Renationalisierung der Wirtschaft und einem neuen Isolationismus rechtsaußen überholt werden könnte?

Kurt Tucholsky hatte für den neuen Patriotismus in der Ökonomie in den dreißiger Jahren seinerzeit nur Spott übrig, zumal er dessen verheerende Folgen voraus sah. In seinem Einmaleins der Nationalökonomie schrieb er:  „Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten. Eine wichtige Rolle im Handel spielt der Export, Export ist, wenn die andern kaufen sollen, was wir nicht kaufen können; auch ist es unpatriotisch, fremde Waren zu kaufen, daher muß das Ausland einheimische, also deutsche Waren konsumieren, weil wir sonst nicht konkurrenzfähig sind. Wenn der Export andersrum geht, heißt er Import, welches im Plural eine Zigarre ist. Weil billiger Weizen ungesund und lange nicht so bekömmlich ist wie teurer Roggen, haben wir den Schutzzoll, der den Zoll schützt sowie auch die deutsche Landwirtschaft.“

John Maynard Keynes freilich hatte auch deutlich gemacht, dass eine Kritik der Expansion deregulierter Weltmärkte sehr wohl einhergehen kann mit der höchsten Wertschätzung einer - wenn man so will - gesellschaftlichen Globalisierung: „I sympathize, therefore, with those who would minimize, rather than with those who would maximize, economic entanglement among nations. Ideas, knowledge, science, hospitality, travel - these are the things which should of their nature be international. But let goods be homespun whenever it is reasonably and conveniently possible, and, above all, let finance be primarily national.”

Es geht um einen anderen Modus der Verflechtungen in der Einen Welt, um Eine Welt des Austauschs der Ideen und der Begegnung der Menschen, um Weltbürgertum statt Weltmarkt. Diese Vision einer Globalisierung mit menschlichem Antlitz trifft sich auch mit der Botschaft der ökumenischen Bewegung und ihren Leitbildern für eine Wirtschaft im Dienste des Lebens. Wirtschaften soll dem Leben dienen, und das Zusammenleben im Oikos der Einen Welt soll vom Geist der Solidarität und nicht von den Gesetzen des Marktes geprägt sein.

Allerdings lässt sich, anders als Keynes in den dreißiger Jahren noch meinte, der Grad der ökonomischen Verflechtungen in der Welt wohl kaum zurückdrehen, zumal die Intensivierung der Handelsbeziehungen ohne Zweifel enorme Wohlstandsgewinne erzeugt hat – wiewohl diese weltweit extrem ungleich verteilt sind und die Handelsausweitung auch erhebliche soziale und ökologische Verwerfungen mit sich gebracht hat. Daher setzt sich Brot für die Welt auch dafür ein, dass die ökonomische Globalisierung politisch, im Sinne einer ökologisch nachhaltigen und sozial fairen Globalisierung gestaltet wird.

Globalisierung mit Augenmaß

Die Herausforderung liegt darin, wie die Vorzüge des internationalen Austauschs von Gütern und Dienstleistungen beibehalten werden können, ohne soziale und ökologische Ziele zu behindern. Die Vereinbarkeit mit den SDGs sollte in Zukunft ein wichtiger Maßstab jeglicher  Handelspolitik sein. Die Ausweitung von Freihandelsabkommen und die fortschreitende Deregulierung des Handels stehen diesem Anliegen allerdings entgegen, werden doch aus Perspektive der Freihandelsdoktrin ökologische und soziale Standards grundsätzlich als nicht-tarifäre Handelshemmnisse betrachtet, die abgeschafft werden müssen. Tatsächlich aber muss es darum gehen, die Standards zu erhöhen, nicht zu senken. Somit können ökologische und soziale Interessen mit ökonomischen Interessen in Widerspruch geraten. Internationaler Handel wird gegenwärtig nur nach dem Preis bewertet, nicht aber nach seiner sozialen und ökologischen Qualität. Staaten dürfen den Austausch von Waren und Dienstleistungen gemäß WTO-Regeln meist nicht davon abhängig machen, unter welchen Bedingungen die Produkte hergestellt wurden.

Vor diesem Hintergrund spricht auch Dani Rodrik von einem Globalisierungsparadox: „Ich nenne dies das fundamentale politische Trilemma der Weltwirtschaft: Wir können nicht gleichzeitig Demokratie, nationale Selbstbestimmung und wirtschaftliche Globalisierung betreiben.“ Er plädiert dafür, dieses Trilemma im Zweifel zugunsten der demokratischen Errungenschaften aufzulösen: „Demokratien haben das Recht, ihre sozialen Regeln zu verteidigen, und wenn dieses Recht mit den Anforderungen einer globalen Wirtschaft konfligiert, sollte die Globalisierung das Nachsehen haben.“ Dies wäre dann auch in seinem Verständnis eine „Globalisierung mit Augenmaß“. Gerade im Handel mit sensiblen Produkten, wie z.B. im Agrarbereich, plädiert auch Brot für die Welt z.B. dafür, dass Entwicklungsländer das Recht auf Selbstbestimmung im Interesse der Ernährungssouveränität wahrnehmen können. Dies sollte aber nicht mit einem Plädoyer für Protektionismus verwechselt werden.

Ein Ausweg aus dem „Globalisierungsparadox“ würde freilich auch in der Stärkung politischer Ordnungs- und Steuerungsstrukturen auf der internationalen Ebene liegen, die gerade auch im Blick auf die Regulierung der Weltmärkte angezeigt sind. Mehr Global Governance ist dringend vonnöten. Das impliziert in handelspolitischen Fragen zunächst den Vorrang von multilateralen Vereinbarungen vor bilateralen Verhandlungen, zum anderen die strikte Orientierung an den Leitlinien einer nachhaltigen, menschenrechtsorientierten und gerechten Entwicklung. Denn auch Global Governance-Strukturen und multilaterale Institutionen sind nur so gut, wie sie sich der Förderung des globalen Gemeinwohls verpflichtet sehen und demokratisch legitimiert sind. Eine „Globalisierung mit menschlichem Antlitz“ braucht nicht nur Global Governance, sondern vor allem Governance mit ethischen Leitplanken und dem größtmöglichen Maß an Transparenz, mithin „Global Good Governance“.

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